Genealogie ohne DNA-Genealogie?
Ist Genealogie ohne DNA, ist Familiengeschichtsforschung ohne die Nutzung der Ergebnisse von DNA-Tests heute noch möglich?
Ein sehr erfahrener Genealoge im deutschsprachigen Raum äußerte dieser Tage:
Ich bin nicht gegen DNA-Genealogie, und sie hat durchaus in einigen Bereichen eine Berechtigung. Aber wir FORSCHEN hier – das ist etwas anderes. Für uns zählt nicht das Ergebnis eines Austausches von Körperflüssigkeiten, sondern das geschriebene Wort …
Der „Genealogy Proof Standard“ (GPS) hingegen verlangt ausdrücklich die Nutzung der DNA im Rahmen der genealogischen Forschung:
Meeting the Genealogical Proof Standard requires using all available and relevant types of evidence. DNA evidence both differs from and shares commonalities with documentary evidence.
Genealogy Standards. Second edition. Hrsg. vom Board for Certification of Genealogists. New York 2018, S. 29
Die „genealogy standards“ 51 bis 57 beziehen sich auf verschiedene grundsätzliche Fragen der Nutzung von DNA-Tests im Rahmen der Genealogie, darunter vielleicht am wichtigsten der „standard“ 55:
„Genealogists integrate DNA test results with documentary research findings. They assess the merits and shortcomings of the combined evidence, including points of agreement and conflict between and within documentary and DNA evidence.“
Genealogy Standards. Second edition. Hrsg. vom Board for Certification of Genealogists. New York 2018, standard 55
Ist das ein übertriebener Modernismus der amerikanischen Genealogen (denen manch Familiengeschichtsforscher in Europa mit dem Vorurteil begegnet, sie würden ohnehin keine ernsthafte Forschung betreiben) – oder zeigt die Ablehnung der Nutzung genealogischer DNA-Tests als gleichberechtigter Quelle eine Rückständigkeit der Genealogie im deutschen Sprachraum? Beschäftigt sich eine Genealogie mit wissenschaftlichem Anspruch mit dem „geschriebenen Wort“ – oder mit dem „Ergebnis eines Austausches von Körperflüssigkeiten“?
Wikipedia weiß die Antwort:
Genealogie (von altgriechisch γενεαλογία genealogía „Geschlechtsregister, Stammbaum“; zurückgehend auf γενεά geneá „Geburt, Abstammung, Sippschaft, Familie“ und λόγος lógos „Lehre“) bezeichnet im engeren Sinne die historische Hilfswissenschaft der Familiengeschichtsforschung, allgemeinsprachlich Ahnenforschung (Thema dieses Artikels). Genealogen oder Familienforscher befassen sich mit menschlichen Verwandtschaftsbeziehungen und ihrer Darstellung. Verallgemeinernd wird als Genealogie einer Person oder Familie die Auflistung ihrer namentlich bekannten Vorfahren verstanden.
Seite „Genealogie“. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 2. Juni 2019, 10:10 UTC. URL: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Genealogie&oldid=189176150 (Abgerufen: 9. Juni 2019, 19:36 UTC)
Für jene, denen die Wikipedia zu zitieren, zu unseriös erscheint, sei Ahasver von Brandt angeführt:
Mit den biologischen Zusammenhängen und verwandtschaftlichen Verflechtungen der Menschen beschäftigt sich die Genealogie als Hilfswissenschaft.
Ahasver v. Brandt: Werkzeug des Historiker. Eine Einführung in die historischen Hilfswissenschaften. S13. Aufl. Stuttgart 1992, S. 39
Die Frage nach der Priorität von Worten oder Körperflüssigkeiten beantwortet: Genealogie beschäftigt sich mit menschlichen Verwandtschaftsbeziehungen, mit den Vorfahren (und Nachfahren) eines Probanden. Natürlich sind Verwandtschaftsbeziehungen per definitionem zunächst immer das „Ergebnis eines Austausches von Körperflüssigkeiten“; erst sekundär sind Sonderformen wie die Heiratsverwandtschaft, Stiefbeziehungen, rechtliche Verwandtschaft durch Adoption und die geistliche Verwandtschaft im Sinne des katholischen Kirchenrechts. Im günstigen Falle informiert das „geschriebene Wort“ über die Verwandtschaftsbeziehungen – im Kirchenbuch, im Zivilstands- oder Standesamtsregister, im Gerichtsbuch, im Testament und welche anderen Quellen es noch geben mag.
Bislang war das „geschriebene Wort“ in aller Regel die einzige zugängliche genealogische Quelle, aber bekanntlich ist es nicht unbedingt zuverlässig. Kein ernstzunehmender Genealoge führt seine Abstammung (oder die einer anderen historischen Person) ernsthaft auf den Schwanenritter, auf Aeneas oder auf Adam und Eva zurück. Auch wenn es manche mittelalterliche oder schon antike Genealogien gibt, die solche Abstammungen behaupten, so sind sie schon lange als fiktiv erkannt und werden mit bestimmten politischen Ideen und Ansprüchen erklärt. Weil sie eben nicht historisch zuverlässig über das „Ergebnis eines Austausches von Körperflüssigkeiten“ informieren, sondern anderen Intentionen folgen, werden die Angaben aus solchen mittelalterlichen Genealogien nicht übernommen.
Verhält es sich mit den üblichen genealogischen Quellen der Frühen Neuzeit und der Neuzeit anders – das „geschrieben Wort“ entscheidet, die tatsächliche Abstammung ist irrelevant? Jeder Genealoge kennt widersprüchliche oder offensichtlich falsche Kirchenbucheinträge, seltener auch Falschangaben in Zivilstandsregistern, und es ist die wesentliche Aufgabe genealogischer Forschung, durch die Analyse der verfügbaren historischen Quellen die tatsächlichen Verwandtschafts- und Abstammungsverhältnisse zu klären. Bislang waren es offensichtliche oder versteckte Widersprüche zwischen verschiedenen Quellen, die zur Aufdeckung und im Idealfall zur Richtigstellung von fehlerhaften Beurkundungen führen konnten. Seit wenigen Jahren sind es die Ergebnisse von genealogischen DNA-Tests, die in Widerspruch stehen zur schriftlichen Überlieferung.
Solange die Genealogie jene Wissenschaft ist, die sich mit Abstammungs- und Verwandtschaftsverhältnissen beschäftigt, müssen zwingend alle verfügbaren Quellen herangezogen und ausgewertet werden, die über die Fragestellung – nämlich nach dem „Ergebnis eines Austausches von Körperflüssigkeiten“ – Auskunft geben können. Heute gehören zu den möglichen Quellen selbstverständlich auch DNA-Tests. Die Ergebnisse der traditionellen genealogischen Forschung haben sich messen zu lassen an den Erkenntnissen, die sich aus der Analyse von DNA-Tests ergeben können. Die aus der traditionellen genealogischen Quellenforschung gewonnenen Erkenntnisse dürfen nicht im Widerspruch stehen zu den Ergebnissen der modernen Naturwissenschaft. In jedem Falle muss conflicting evidence, wie der GPA es nennt, aufgelöst werden, oder es ist zumindest darauf hinzuweisen, dass die documentary evidence im Widerspruch steht zur DNA evidence:
Conclusions about genetic relationships require a combination of both DNA evidence and documentary evidence. Genealogists declare that a relationship is genetic only when their evidence supports a genetic relationship. If DNA evidence could overturn a conclusion, genealogists explain that limitation.
Genealogy Standards. Second edition. Hrsg. vom Board for Certification of Genealogists. New York 2018, standard 56
Nun gibt es an dieser Stelle teilweise den Einwand, für den Einzelnen sei die soziale Familie möglicherweise wichtiger als die biologische Abstammung, ist unbegründet. Sicherlich ist zwischen der sozialen und der biologischen Familie zu unterscheiden, und biographisch-persönlich mag die soziale Familie für den Einzelnen von viel größerer Bedeutung sein, etwa im Falle einer Adoption. Das ändert nichts daran, dass Genealogie die Wissenschaft ist, die sich mit Abstammungs- und Verwandtschaftsverhältnissen beschäftigt, so dass die Erforschung der biologischen Vorfahren im Vordergrund steht und nicht etwa der durch Adoption gewonnenen Vorfahren. In jenen häufigen Fällen, dass ein Vorfahre des 17. oder 18. Jahrhunderts in jungen Jahren, vielleicht schon als Säugling oder Kleinkind durch den Tod der Mutter im Kindbett zum Halbwaisen wurde, wird auch niemand die Vorfahren der Stiefmutter erforschen, die das Kind tatsächlich großgezogen hat, die Vorfahren der leiblichen Mutter aber völlig ignorieren mit der Begründung, jener Vorfahre habe ja nur seine Stiefmutter, nicht aber seine leibliche Mutter gekannt.
Die Genealogie verlangt also zwingend auch die Nutzung aller erreichbaren Möglichkeiten der DNA-Genealogie, um so weit wie möglich die Ergebnisse der traditionellen Forschung abzusichern, mögliche Widersprüche und Falschangaben in den schriftlichen Quellen zu identifizieren und ggf. richtigzustellen und so zu verhindern, dass möglicherweise völlig falsche Ahnentafeln erstellt werden.
Ein konkretes eigenes Beispiel: Die Auswertung meiner DNA-Tests hat zu dem Ergebnis geführt, dass jener Mann, der sowohl in der standesamtlichen Geburtsurkunde wie auch im Taufregister als Vater meines Großvaters mütterlicherseits genannt wird, nicht der biologische Vater sein kann. Nach fast 30 Jahren genealogischer Forschung hat sich damit herausgestellt, dass ein Viertel der Ahnentafel meiner Mutter, ein Achtel meiner eigenen Ahnentafel falsch ist und nicht die tatsächlichen Vorfahren darstellt. Bei Beginn meiner genealogischen Forschung 1987 war ein solcher Fehler unvermeidlich; heute aber kann die rechtzeitige Nutzung von DNA-Tests dazu beitragen, ausgedehnte Irrwege der Forschung zu vermeiden und den Weg zu den tatsächlichen Vorfahren zu weisen.
Die Auswertung von DNA-Tests kann nämlich nicht nur dazu führen, dass sich – in seltenen Fällen! – bisherige Forschungsergebnisse als falsch erweisen, sondern kann auch helfen, die tatsächlichen Vorfahren zu identifizieren. In meinem Falle habe ich auf Grundlage der DNA-Tests in Verbindung mit der traditionellen genealogischen Forschung zumindest eine vorläufige belastbare Hypothese, wer der tatsächliche Vater meines Großvaters gewesen sein könnte. Vor allem aber lassen sich über DNA-Tests größere Teile einer Ahnentafel auch bestätigen. Bis zur Generation der Urururgroßeltern sind meine Vorfahren – und damit die Richtigkeit der bisherigen Forschungsergebnisse – inzwischen größtenteils durch das DNA-Matching bestätigt, manche Linien sogar bis ins 17. Jahrhundert zurück. Ich bin sehr zuversichtlich, in wenigen Jahren wenigstens zwei oder drei weitere Generationen über das DNA-Matching bestätigen zu können. Damit dient die DNA-Genealogie der Annäherung an die historische Wirklichkeit, dem Ziel einer jeden genealogischen und allgemein historischen Forschung.
In Anlehnung an Nietzsche kann man also nur zu dem Ergebnis kommen: Ohne DNA-Forschung wäre Genealogie ein Irrtum. Oder mit Loriot: Genealogie ohne DNA ist möglich, aber sinnlos.