Fakenews über AncestryDNA
Eine Widerrede in zwölf Punkten
Vorbemerkung: Diese „Widerrede“ wurde zuerst am 11.6.2019 veröffentlicht. Am 13.6.2019 ist mir eine Gegendarstellung von Herrn Dr. Weichert zugegangen, die natürlich hier abzurufen ist, aber auch unabhängig im Internet veröffentlicht ist. Der Abschnitt zu Positionen von Herrn Dr. Weichert in anderen Fragen des Datenschutzes (siebter Absatz) und der vorletzte Absatz sind am 13./14.6.2019 korrigiert worden. Nachträge zu den einzelnen Punkten mit Bezugnahme auf die Gegendarstellung sind als solche gekennzeichnet.
Der Datenschutz ist in der digitalen Welt von heute von zentraler Bedeutung. In besonderer Weise gilt das für den Umgang mit den sensiblen persönlichen Daten, die aus DNA-Tests gewonnen werden können. Für die Akzeptanz der DNA-Genealogie unter den Familienforschern – insbesondere den Familienforschern in Deutschland – ist ein offener Umgang mit allen Fragen des Datenschutzes im Zusammenhang mit genealogischen DNA-Tests ganz zentral.
Tatsächlich werden in der internationalen scientific community der DNA-Genealogen Fragen des Datenschutzes regelmäßig, kontrovers, kompetent, offen und teils erbittert diskutiert, seit etwa einem Jahr insbesondere im Zusammenhang mit der Frage, ob genealogische Datenbanken von (amerikanischen) Strafverfolgungsbehörden genutzt werden dürfen, um Hinweise zur Identifizierung von unbekannten Toten oder von Schwerverbrechern zu erhalten. Beispielhaft zu nennen sind hier Leah Larkin mit ihrem Blog „The DNA Geek“ und Judy G. Russell, „The Legal Genealogist“, die sich teilweise außerordentlich kritisch mit Rechts- und Datenschutzfragen im Zusammenhang mit der DNA-Genealogie auseinandersetzen. Wenig überraschend findet eine differenzierte Diskussion vor allem in englischer Sprache statt und ist stark durch die US-amerikanische Sichtweise geprägt.
Im deutschsprachigen Raum leidet die Auseinandersetzung mit grundsätzlichen Fragen der DNA-Genealogie darunter, dass hier oft diejenigen den Gang der Diskussion bestimmen wollen, die bestenfalls wenig Ahnung von der Materie haben und öfter noch der DNA-Genealogie als solcher ablehnend gegenüberstehen und diese am liebsten verbieten und verhindern würden – sei es aus einer grundsätzlichen politischen Überzeugung heraus, sei es wegen einer grundsätzlichen Ablehnung des wissenschaftlichen Fortschrittes in der Genealogie. Das ist in hohem Maße bedauerlich, weil die Diskussion so in der Regel oberflächlich bleibt und schnell ins Unsachliche abgleitet, während eine konstruktive Auseinandersetzung mit dem Thema und ggf. eine Weiterentwicklung in der Sache ausbleibt.
Dieser Tage berichten viele Medien über die Verleihung des „Big-Brother-Awards“ in der Kategorie Biotechnik an die Firma Ancestry.com. Die „Laudatio“ stammt vom früheren Schleswig-Holsteinischen Landesbeauftragten für Datenschutz, Thilo Weichert, der im Dezember 2018 im Auftrag des „Netzwerks Datenschutzexpertise“ bereits ein Gutachten zu AncestryDNA erstellt hat.
Was ist das „Netzwerk Datenschutzexpertise“, wer ist Thilo Weichert? Das „Netzwerk Datenschutzexpertise“ stellt sich selbst vor als ein „Zusammenschluss von DatenschutzexpertInnen, deren Ziel es ist, öffentliche Diskussionen über Fragen des Datenschutzes sowie generell des Schutzes von Menschenrechten und Grundrechten in der digitalen Welt zu initiieren bzw. durch eigene Beiträge wissenschaftlicher oder praxisbezogener Art voranzubringen“ und hat immerhin vier Mitglieder, neben Thilo Weichert eine Informatikerin, ein „Informatiker und Politologe“ und ein „Informatiker und Philosoph“.
Ob man eine Gruppe von vier Personen bereits als ein „Netzwerk“ bezeichnen kann, sei dahingestellt. Auf jeden Fall zeigt das Beispiel, wie Lobbyarbeit funktioniert: Man gründet mit drei Freunden ein „Netzwerk“, lässt eine passende Domain registrieren und legt sich einen Internetauftritt zu. Anschließend beauftragt man sich selbst mit einem Gutachten und lanciert es an die Medien, die vor einem „Netzwerk Datenschutzexpertise“ vor Ehrfurcht erstarren und auf eine eigene Recherche verzichten. So erlangt das selbsternannte Vier-Personen-Netzwerk in den Medien und damit in der Öffentlichkeit eine Aufmerksamkeit, die man privat nicht bekäme.
Thilo Weichert, der Verfassers des „Gutachtens“ und der „Laudatio“, wurde bundesweit bekannt durch seine teils sehr weitgehende Kritik an Unternehmen wie Google oder Facebook. Ohne dass man die inhaltlich nicht immer überzeugenden Positionen hier wiederholen muss, kann man feststellen, dass Weicherts Positionen in Fragen des Datenschutzes nicht allgemein geteilt werden und teilweise deutliche Kritik oder Widerspruch erfahren haben.
Nun also hat sich Thilo Weichert Ancestry.com, insbesondere AncestryDNA vorgenommen. Eigentlich verdienen sein „Gutachten“ und seine „Laudatio“ es nur, dass man den Mantel ungnädigen Vergessens über sie breite; das große Medienecho aber macht es erforderlich, verschiedene Punkte zu kommentieren und Falsches richtigzustellen. Der Einfachheit halber beschränke ich mich im Wesentlichen auf Weicherts „Laudatio“ und verweise nur vereinzelt auf das „Gutachten“.
Hier also eine Widerrede in zwölf Punkten:
Punkt 1: Die Einstellung von Weichert gegenüber der Genealogie wird in seinem „Gutachten“ deutlich, indem er sie auf „Ahnenforschung“ reduziert und mit dem Nationalsozialismus in Verbindung bringt – ein Vorurteil gegenüber der Genealogie, das eigentlich seit einigen Jahrzehnten überholt sein sollte:
Insbesondere in Deutschland besteht aber bzgl. der Ahnenforschung eine historisch begründete Skepsis, da sie während des Nationalsozialismus für Ariernachweise und zur Ausgrenzung, Diskriminierung bis hin zur Ermordung von Angehörigen ethnischer Minderheiten eingesetzt wurde.
https://www.netzwerk-datenschutzexpertise.de/sites/default/files/gut_2018_ancestry.pdf (S. 5)
In der „Laudatio“ bezeichnet er die Genealogie immerhin abgeschwächt nur noch als
ein relativ harmloses Hobby.
https://bigbrotherawards.de/2019/biotechnik-ancestry_com
Leider erfährt der Leser nicht, was der Grund für die Einschränkung sein mag, Genealogie nur für „relativ harmlos“ zu halten bzw. welches Gefahrenpotential Weichert hier wittert. Dass Genealogie nicht nur ein Hobby, sondern auch eine historische Hilfswissenschaft ist, scheint sich zu Weichert ebenfalls noch nicht herumgesprochen zu haben; hier hätte schon ein Blick in den einschlägigen Artikel der Wikipedia geholfen.
Nachtrag: Dass die „Ahnenforschung“ während des Dritten Reiches politisch instrumentalisiert wurde und insbesondere seit Einführung der Nürnberger Gesetzen genutzt wurde, um jene auszugrenzen und zu stigmatisieren, die nicht in die nationalsozialistische „Volksgemeinschaft“ passten, ist eine historische Tatsache bestreitet überhaupt niemand. Die Kritik in Punkt 1 bezieht sich auch nicht auf diese Aussage, sondern auf den ersten Teil des Satzes, dass in Deutschland noch immer „bzgl. der Ahnenforschung eine historisch begründete Skepsis“ bestehe.
Eine solche Skepsis – ob berechtigt oder nicht, sei dahingestellt – gab es sicherlich bis in die 1980er- oder 1990er-Jahre. In den letzten Jahrzehnten aber hat sich die Genealogie und Familiengeschichtsforschung in Methoden, Zielsetzung und wissenschaftlichem Standard als citizen science etabliert und genießt insbesondere in den letzten Jahren eine ähnliche gesellschaftliche Anerkennung wie in anderen Ländern. Fernsehsendungen wie regelmäßige Darstellungen zur Genealogie und Familiengeschichtsforschung auch in populärwissenschaftlichen Zeitschriften wie „Geo“ zeugen davon. Gerade zur Unterscheidung von jener politisch motivierten „Ahnenforschung“ während des Dritten Reiches wird heute zumindest von jenen, die sich damit beschäftigen, auch die Bezeichnung „Genealogie“ oder „Familiengeschichtsforschung“ bevorzugt. Die Behauptung, dass es auch heute eine „Ahnenforschung“ „gibt“ [Indikativ, nicht ein Konditionalis: geben könnte!], „die moralisch und evtl. auch rechtlich nicht in Ordnung ist“, bleibt unbegründet; eine „Verfolgung auf der Grundlage von einer genetischen Zuordnung zu Ethnien“ findet zumindest in Deutschland und in anderen westlichen Ländern heute nicht statt.
Punkt 2: Weichert schreibt:
Die Gentechnik eröffnet nun ganz neue Erkenntnismöglichkeiten [für die „Ahnenforschung“].
https://bigbrotherawards.de/2019/biotechnik-ancestry_com
Über Gentechnik informiert die Wikipedia:
Als Gentechnik bezeichnet man Methoden und Verfahren der Biotechnologie, die auf den Kenntnissen der Molekularbiologie und Genetik aufbauen und gezielte Eingriffe in das Erbgut (Genom) und damit in die biochemischen Steuerungsvorgänge von Lebewesen bzw. viraler Genome ermöglichen.
https://de.wikipedia.org/wiki/Gentechnik
Selbstverständlich nutzt die DNA-Genealogie nicht die Möglichkeiten der Gentechnik – von Versuchen, längst verstorbene Vorfahren zu klonen, ist wenigstens noch nichts bekannt -, sondern die der DNA-Analyse. Man darf annehmen, dass Weichert hier gezielt die Methoden des Framings benutzt, um durch den in Deutschland negativ besetzten und hier sachlich falsch verwendeten Begriff „Gentechnik“ die DNA-Genealogie unterschwellig in ein schlechtes Licht zu setzen.
Punkt 3: Zu den Möglichkeiten der DNA-Genealogie schreibt Weichert:
[D]ie Analyse unserer Gene, unserer DNA, verrät, mit wem wir biologisch verwandt sind – bis zum 3. oder 4. Grad.
https://bigbrotherawards.de/2019/biotechnik-ancestry_com
Hier zeigt sich, dass sich Weichert mit seinem Thema nicht in einmal in Grundzügen auskennt: In der DNA-Genealogie werden keine Gene analysiert [Nachtrag: sondern SNP], „DNA“ kann nicht als Apposition zu „Gene“ verwandt werden, und mit den Methoden der DNA-Genealogie lassen sich keine Verwandtschaftsbeziehungen „bis zum 3. oder 4. Grad“ feststellen (das sind nach deutschem Sprachgebrauch Vettern oder Cousinen), sondern Verwandtschaftsbeziehungen mit einem gemeinsamen Vorfahren durchaus im 17. oder 18. Jahrhundert (etwa 6th oder 8th cousins nach englischer Terminologie – im Deutschen gibt es keine vergleichbar knappe Bezeichnung).
Verfehlt ist Weicherts Definition von DNA:
DNA ist die englische Abkürzung für Desoxyribonukleinsäure – deoxyribonucleic acid – die wissenschaftliche Bezeichnung für unser Genom, also die Gesamtheit unserer Erbanlagen.
https://bigbrotherawards.de/2019/biotechnik-ancestry_com
Nachtrag: In der Gegendarstellung heißt es:
Mir ist nicht erkennbar, was an meiner zweifellos verkürzten „Definition von DNA“ „völlig unsinnig“ sein soll.
https://digitalcourage.de/blog/2019/erwiderung-bigbrotherawards-ancestry
Vielleicht könnte eine Nachfrage bei einem Biologen helfen.
Punkt 4: Weichert behauptet in seiner „Laudatio“:
Dass da alles mit guten Dingen zugeht, dafür verbürgten sich angeblich Ende 2018 auf der Internetseite von ancestry.com noch viele deutschsprachige „Partner“, etwa viele Landesarchive, die Deutsche Nationalbibliothek, das Deutsche Auswandererhaus, die Marineschule Mürwik, das Schweizerische Bundesarchiv oder der niedersächsische Landesverein für Familienkunde. Nur: Von uns auf ihre Partnerschaft angesprochen, hatten diese davon keine Ahnung. Schnell verschwand dann auch diese illegale Werbemethode.
https://bigbrotherawards.de/2019/biotechnik-ancestry_com
Alle ernsthaften Familiengeschichtsforscher und Genealogen wissen, dass Ancestry in der Tat weltweit mit Archiven und anderen öffentlichen Einrichtungen bei der Digitalisierung von historischen Unterlagen zusammenarbeitet. Jene Archive, Institutionen und Unternehmen, mit denen Ancestry im deutschsprachigen Raum zusammenarbeitet, werden von Ancestry hier genannt: https://www.ancestry.de/cs/us/partners.
Die Behauptung Weicherts, Ancestry habe auf seiner Internetseite Archive, Institutionen und Unternehmen als Bürgen dafür angeführt, dass bei der DNA-Analyse „alles mit guten Dingen“ zugeht [es heißt übrigens: „mit rechten Dingen“], ist eine groteske Falschdarstellung. Diese Einrichtungen werden damals wie jetzt als Partner bei der Digitalisierung von Archivquellen genannt, nicht im Zusammenhang mit der DNA-Analyse, was für jeden Internetnutzer, der der deutschen Sprache halbwegs mächtig ist, völlig offensichtlich ist. Entsprechend kann man Ancestry hier auch keine „illegale Werbemethode“ unterstellen – und die entsprechende Seite ist auch nicht verschwunden, sondern noch immer aufrufbar. In seinem „Gutachten“ gibt Weichert die URL der von ihm monierten Seite selbst an (https://www.ancestry.de/cs/de/partners). Es ist nicht zu klären, ob Weichert die URL seinem „Gutachten“ fehlerhaft wiedergibt (/cs/de/ statt richtig /cs/us/) oder ob die URL zwischenzeitlich geringfügig geändert wurde.
Nachtrag: In der Gegendarstellung insistiert Weichert wie folgt:
Ende 2018 wurden die „Partner“ unter https://www.ancestry.de/cs/de/partners dargestellt. Tatsächlich werden einige Partner inzwischen weiterhin, aber nicht mehr im Kontext von DNA-Analysen unter https://www.ancestry.de/cs/us/partners, präsentiert. Diese Änderung dürfte darauf zurückzuführen sein, dass ich die genannten „Partner“ auf deren werbliche Verwendung hingewiesen habe und diese hiergegen bei Ancestry vorstellig wurden.
https://digitalcourage.de/blog/2019/erwiderung-bigbrotherawards-ancestry
Die heute nicht mehr direkt aufrufbare Seite https://www.ancestry.de/cs/de/partners ist archiviert mit dem Stand vom 14.12.2018 (außerdem auch mit Stand von August 2018). Wie sich jeder sehr leicht selbst vergewissern kann, wird auf dieser Seite das Wort „DNA“ kein einziges Mal erwähnt. Wie von mir dargestellt, werden auf dieser Seite jene Archive, Institutionen und Unternehmen genannt, mit denen Ancestry im deutschsprachigen Raum zusammenarbeitet. Der einleitende Text vor der Nennung der verschiedenen Einrichtungen lautet vollständig:
Ancestry ist das weltweit führende Unternehmen für Digitalisierung, Indexierung und Online-Publikation von familienhistorischen Dokumenten. Weltweit verlassen sich mehrere hundert Partner, wie zum Beispiel die „National Archives of England & Wales“ und die „US National Archives and Record Administration“, bei der Digitalisierung historischer Unterlagen auf unsere langjährige Erfahrung. Im deutschsprachigen Markt arbeitet Ancestry u.a. mit den folgenden Archiven, Institutionen und Unternehmen zusammen: [Es folgen die Logos und Bezeichnungen von 21 Einrichtungen]
https://web.archive.org/web/20180208213553/http://www.ancestry.de/cs/de/partners
Die Seite ist bis auf die Formatierung inhaltlich identisch mit der heute erreichbaren Seite https://www.ancestry.de/cs/us/partners. Die Behauptung, Ancestry habe mit der Nennung dieser Institutionen irreführende Werbung im Zusammenhang mit DNA-Analysen gemacht, ist in keiner Weise nachvollziehbar. Möglicherweise ist es Weichert nicht bekannt, dass Ancestry eben nicht nur DNA-Analysen anbietet (AncestryDNA), sondern vor allem in großem Maße historische Quellen digitalisiert und auf der Basis von Abonnements seinen Kunden zur Verfügung stellt. Wenn das Bundesarchiv mitteilt, dass die „Zusammenarbeit zwischen dem Bundesarchiv und Ancestry … in keinem Zusammenhang mit irgendwelchen Genanalysen“ steht, beschreibt das einen Sachverhalt zutreffend, bestätigt aber nicht, dass Ancestry irreführende Werbung getrieben habe.
Punkt 5: Die zentrale Kritik von Weichert richtet sich gegen die Datenschutzbestimmungen und Nutzungsbedingungen von Ancestry. Weichert behauptet:
Der Haken liegt – wie so oft – im Kleingedruckten und ist im Falle von Ancestry in einem dichten Gestrüpp von Bestimmungen verborgen: einer 16seitigen Datenschutzerklärung, elf Seiten Allgemeine Geschäftsbedingungen und siebeneinhalb Seiten Einwilligung in das Forschungsprojekt „Ancestry Human Diversity Project“.
https://bigbrotherawards.de/2019/biotechnik-ancestry_com
Mit „Gestrüpp von Bestimmungen“, „16seitig“, „elf Seiten“ und „siebeneinhalb“ Seiten möchte Weichert offenbar suggerieren, dass die entsprechenden Bestimmungen und Vereinbarungen besonders unübersichtlich und zum Nachteil des Nutzers formuliert seien (wobei es unklar bleibt, wie Weichert eine Internetseite in „16“, „11“ oder „7 1/2“ Seiten umrechnet).
Schaut man sich die entsprechenden Seiten bei Ancestry an (Datenschutzbestimmungen, Allgemeine Geschäftsbedingungen, Einwilligungserklärung für AncestryDNA), so werden dort in der Tat umfangreiche Informationen geboten – allerdings sehr strukturiert und in einer offensichtlich sehr um Allgemeinverständlichkeit bemühten sprachlichen Form. Neben den eigentlichen, juristisch verbindlichen Datenschutzbestimmungen bietet Ancestry auch eine Seite mit FAQ zum Datenschutz – ganz offensichtlich deswegen, um alle Nutzer in verständlicher Weise über alle relevanten Aspekte zu informieren.
Nun mag es vielleicht in den Datenschutzbestimmungen, den Allgemeinen Geschäftsbedingungen oder der Einwilligungserklärung heikle, fragwürdige oder für den Nutzer nachteilige Bestimmungen geben – allein dazu äußert Weichert sich in seiner „Laudatio“ nicht, so dass seine Behauptungen vage und unbegründet bleiben. Die entsprechenden Abschnitte in seinem „Gutachten“ mag ein Jurist auf ihre Stichhaltigkeit hin überprüfen.
Gerade Ancestry Verstöße gegen den Datenschutz vorzuwerfen zeigt wieder die mangelnde Sachkenntnis Weicherts [in Bezug auf Ancestry]. Während FTDNA, MyHeritage, 23andme und Gedmatch.com beim DNA-Matching Segmentdaten bereitstellen, also genau angeben, auf welchem Chromosom und in welchem Abschnitt eine Übereinstimmung besteht, lehnt Ancestry dies mit Berufung auf den Datenschutz konsequent ab – obwohl dies die Auswertungsmöglichen erheblich einschränkt und obwohl die Nutzer dies seit Jahren nachdrücklich wünschen.
Nachtrag: In der Gegendarstellung moniert Weichert, dass nicht ausreichend auf sein „Gutachten“ eingegangen werde. Dies wird exemplarisch an anderer Stelle nachgeholt.
Punkt 6: Grundsätzlich besteht die Möglichkeit, dass ein Nutzer seine DNA-Daten für weitergehende Forschungen zur Verfügung stellt („Ancestry Human Diversity Project“). Dazu ist die ausdrückliche Einwilligung des einzelnen Nutzers erforderlich, wie sich der Einwilligungserklärung unschwer entnehmen lässt:
Ihre Einwilligung zu einer Teilnahme an diesen Forschungsarbeiten ist vollkommen freiwillig und nicht erforderlich, damit Sie unsere Produkte oder Dienstleistungen in Anspruch nehmen können. Auch wenn Sie einer Teilnahme an einem Forschungsvorhaben zustimmen, können Sie Ihre Einwilligung jederzeit zurückziehen, wobei Ihre Angaben aber nicht aus bereits laufenden oder abgeschlossenen Forschungsarbeiten entfernt werden.
https://www.ancestry.de/dna/lp/informedconsent-v4-de
In der Einwilligungserklärung informiert Ancestry ausführlich über eventuelle Risiken (Punkt 8) und räumt dem Nutzer ein, seine einmal erteilte Einwilligung jederzeit wieder zurückzuziehen. Dass Daten, die in anonymisierter Form bereits in Forschungsarbeiten eingegangen sind, nicht mehr nachträglich daraus entfernt werden können, ist eine logische Selbstverständlichkeit.
Weichert schreibt weiter:
Wer in dieses „Ancestry Human Diversity Project“ einmal seine Einwilligung erteilt, gibt die Kontrolle über seine genetischen Daten aus der Hand und hat keinen Einfluss mehr darauf, wer was und wo damit forscht.
https://www.ancestry.de/dna/lp/informedconsent-v4-de
Die Kritik läuft insofern ins Leere, als dass niemand verpflichtet, hierzu seine Zustimmung zu geben. Wer eben nicht möchte, dass seine Daten für Forschungsarbeiten genutzt werden, die er im Einzelnen nicht kennt, kann einfach darauf verzichten, seine Zustimmung zu erteilen.
Dann schreibt Weichert:
Ca. 80% der Einsendenden geben gemäß Presseberichten bei 23anMe [sic!] ihre DNA für „Forschungszwecke“ frei und machen weitere Angaben zu sich und ihrer Familie. Bei Ancestry dürfte es ähnlich sein.
https://bigbrotherawards.de/2019/biotechnik-ancestry_com
23andme ist ein gänzlich anderes Unternehmen, bei dem die Gewinnung von DNA-Daten und deren Nutzung für die medizinische und pharmakologische Forschung im Vordergrund steht, was auch kein Geheimnis ist; insofern dürfte es nicht überraschen, dass die ja immerhin freiwilligen Kunden von 23andme für diese Zwecke auch ihre Einwilligung erteilen – sonst würden sie nicht 100 oder 200 US-$ für einen DNA-Test bei 23andme ausgeben. Dass ein ähnlich hoher Anteil der Ancestry-Kunden an dessen Forschungsprojekt teilnehme, ist eine reine Vermutung, die angesichts des anderen Kundenkreises von Ancestry auch wenig fundiert erscheint. Das zentrale Geschäftsmodell von Ancestry ist nämlich der Verkauf von (relativ teuren) Abonnements zur Nutzung der verschiedenen Datenbanken mit digitalisierten bzw. indizierten historischen und genealogischen Quellen.
Nachtrag: Weichert vertritt in seiner Gegendarstellung die Auffassung, der Einzelne könne seine eigene DNA nicht rechtswirksam „für weitergehende Forschungen“ zur Verfügung stellen, weil damit indirekt auch über Teile der DNA Dritter verfügt werde. Natürlich ist es richtig, dass die DNA eines Menschen zu mehr oder minder großen Anteilen mit der DNA von näheren oder ferneren Verwandten übereinstimmt – sogar mit möglicherweise noch ungeborenen Nachkommen oder anderen Verwandten. Aber soll dann umgekehrt dem Einzelnen die Kenntnis seiner eigenen DNA verwehrt werden können durch den Einspruch eines einzelnen möglichen Verwandten? Schließlich handelt es sich prinzipiell zunächst immer nur um einen möglichen biologischen Verwandten, weil ja erst der DNA-Test selbst erweisen kann, ob überhaupt eine Verwandtschaft besteht. Demnach müssten, den Gedanken zu Ende geführt, DNA-Tests jedweder Art verboten werden.
Punkt 7: Erneut bezieht sich Weichert auf 23andme, wenn er schreibt:
So schloss der Ancestry-Konkurrent 23andMe, der nur einen halb so großen Datenbestand hat, kürzlich mit dem Pharmakonzern GlaxoSmithKline über 300 Mio. US-Dollar einen Kooperationsvertrag zur Nutzung der Daten. Das Geschäftsmodell dieser Anbieter ist nicht die Ahnenforschung, sondern es geht um das ganz große Geld mit den Gendaten, mit insbesondere der Pharmaindustrie als Abnehmer.
https://bigbrotherawards.de/2019/biotechnik-ancestry_com
Vermutlich dient dieser Abschnitt vor allem dazu, wieder im Sinne eines Framings mit den Triggerworten „das ganz große Geld“ und „Pharmaindustrie“ Ancestry in ein schlechtes Licht zu rücken. Mit welchen Einrichtungen und Unternehmen Ancestry derzeit zusammenarbeitet, wird auf der Homepage offengelegt.
Punkt 8: Weichert behauptet:
Ihnen [den Nutzern bzw. Kunden] wird von Ancestry gar verboten, ihre eigenen Analyseergebnisse an Dritte weiterzugeben.
https://bigbrotherawards.de/2019/biotechnik-ancestry_com
Als Beleg für seine Behauptung verweist Weichert auf die Allgemeinen Geschäftsbedingungen. Liest man dort nach, stellt man allerdings fest, dass sich das Verbot, „Dienstleistungen nicht weiterzuverkaufen bzw. keinerlei im Rahmen der Dienstleistungen ausfindig gemachte Inhalte oder Informationen weiterzuverkaufen, zu reproduzieren oder zu veröffentlichen“, im Kontext bezieht auf die Dienstleistungen (englisch „Services“), nicht auf die Inhalte (englisch „content“) (siehe auch Punkt 5). Weicherts Aussage ist schon sehr leicht daran als falsch zu erkennen, als dass Ancestry die Rohdaten aus den DNA-Analysen auf Anforderung zum Download bereitstellt, so dass der Nutzer diese anschließend bei Drittanbietern wie FTDNA, MyHeritage oder Gedmatch.com hochladen kann – oder auf jede andere ihm genehme Weise nutzt.
Nachtrag: In seiner Gegendarstellung insistiert Weichert darauf, die Allgemeinen Geschäftsbedingungen würden die Weitergabe jener Rohdaten untersagen, die Ancestry selbst dem Nutzer zum Download bereitstellt. – Offensichtlich ist Weichert die Unterscheidung zwischen „Dienstleistungen“ und „Inhalten“ in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen nicht aufgefallen. Dies belege ich in Teil 2 dieser Widerrede.
Punkt 9: Weichert behauptet, zur Identifizierung des sogenannten „Golden State Killers“ seien Daten von Ancestry genutzt worden:
Welche weiteren Begehrlichkeiten die Daten der Firma Ancestry wecken, ist 2018 aus den USA bekannt geworden. Menschen, die dort [gemeint offenbar: Ancestry] ihre DNA analysieren liessen [sic!], gerieten mitsamt ihren Familien ins Visier der Polizei, etwa weil sie mit dem so genannten „Golden State-Killer“ auch nur entfernt verwandt sind. Um den Täter zu ermitteln, wurde die gesamte Verwandtschaft von den Ermittlern ausgeforscht. Kein Wort bei Ancestry.über die potenzielle Strafverfolgung von biologischen Verwandten.
https://bigbrotherawards.de/2019/biotechnik-ancestry_com
Die Darstellung ist falsch. Zur Identifizierung des „Golden State Killers“ wurde die Datenbank von Gedmatch.com benutzt [Nachtrag: Bericht hier].
Gerade Ancestry kann nach bisherigem Kenntnisstand von Strafverfolgungsbehörden nicht genutzt werden, weil Ancestry erstens nur Speichelproben analysiert (die an Tatorten logischerweisen nicht gefunden werden) und zweitens das Hochladen der Rohdaten von anderen Anbietern nicht gestattet. Strafverfolgungsbehörden müssten aber die in eigenen Laboren gewonnenen Rohdaten aus Tatortspuren zunächst in die Datenbank von Ancestry importieren, um dann ein Matching durchführen zu können. Wer also skeptisch ist gegenüber einer Nutzung von genealogischen Datenbanken durch Strafverfolgungsbehörden in den USA, wird gerade Ancestry als Testunternehmen wählen.
Nachtrag: Es ist nicht nachvollziehbar, wieso Ancestry verpflichtet sein sollte, mit „wirksamen Maßnahmen … ein Hochladen der Ancestry-Daten z. B. bei Gedmatch“ zu verhindern.
Weichert behauptet in der Gegendarstellung:
Richtig ist schließlich, dass Strafverfolgungsbehörden gemäß dem jeweils anwendbaren Strafverfolgungsrecht (insbesondere der USA) auf den Datenbestand von Ancestry zugreifen können …
https://digitalcourage.de/blog/2019/erwiderung-bigbrotherawards-ancestry
Wenn hier der Eindruck erweckt werden soll, amerikanische Strafverfolgungsbehörden hätten einen uneingeschränkten oder einfachen Zugang zu den bei Ancestry gespeicherten DNA-Daten, so ist dies nach allen zugänglichen Informationen unzutreffend.
Punkt 10: Weichert behauptet:
Ancestry erteilt deutschen Kunden vor der DNA-Analyse auch keine humangenetische Beratung, obwohl diese verpflichtend im deutschen Gendiagnostikgesetz vorgesehen ist.
https://bigbrotherawards.de/2019/biotechnik-ancestry_com
Diese Aussage ist wieder falsch. Das Gendiagnostikgesetz ist gerade nicht anwendbar aus DNA-Tests zu Forschungszwecken:
(2) Dieses Gesetz gilt nicht für genetische Untersuchungen und Analysen und den Umgang mit genetischen Proben und Daten
https://www.gesetze-im-internet.de/gendg/__2.html
1. zu Forschungszwecken, […].
Eine genetische Beratung ist erforderlich im Zusammenhang mit diagnostischen und prädiktiven Gentests:
(1) Bei einer diagnostischen genetischen Untersuchung soll die verantwortliche ärztliche Person nach Vorliegen des Untersuchungsergebnisses der betroffenen Person eine genetische Beratung durch eine Ärztin oder einen Arzt, die oder der die Voraussetzungen nach § 7 Abs. 1 und 3 erfüllt, anbieten. Wird bei der betroffenen Person eine genetische Eigenschaft mit Bedeutung für eine Erkrankung oder gesundheitliche Störung festgestellt, die nach dem allgemein anerkannten Stand der Wissenschaft und Technik nicht behandelbar ist, gilt Satz 1 mit der Maßgabe, dass die verantwortliche ärztliche Person die Beratung anzubieten hat.
https://www.gesetze-im-internet.de/gendg/__10.html
(2) Bei einer prädiktiven genetischen Untersuchung ist die betroffene Person vor der genetischen Untersuchung und nach Vorliegen des Untersuchungsergebnisses durch eine Ärztin oder einen Arzt, die oder der die Voraussetzungen nach § 7 Abs. 1 und 3 erfüllt, genetisch zu beraten, soweit diese nicht im Einzelfall nach vorheriger schriftlicher Information über die Beratungsinhalte auf die genetische Beratung schriftlich verzichtet. Der betroffenen Person ist nach der Beratung eine angemessene Bedenkzeit bis zur Untersuchung einzuräumen.
Ancestry aber bietet gerade keinen diagnostischen oder prädiktiven DNA-Test an und untersagt sogar ausdrücklich die Nutzung der Rohdaten für medizinische, diagnostische und prädiktive Zwecke, so dass diese Vorschriften des deutschen Gendiagnostikgesetzes auch nicht anwendbar sind.
Punkt 11:
Weichert behauptet:
Die Firma prüft auch nicht, ob eine Person berechtigt ist, die eingesendeten Speichelproben untersuchen zu lassen.
In den Nutzungsbedingungen von Ancestry heißt es:
Sie müssen mindestens 18 Jahre alt oder älter sein, um ein DNA-Kit kaufen oder aktivieren zu können. Um die Privatsphäre von Nutzern zu schützen, wenn diese uns ihre DNA bereitstellen, muss jeder Erwachsene, der eine Speichelprobe für einen DNA-Test einsendet, sein eigenes Konto erstellen. Außerdem muss eine solche Person je nach dem Land, in dem das Speichelmuster bereitgestellt wurde, eventuell auch explizit der Verarbeitung heikler persönlicher Informationen zustimmen, wenn sie ihr DNA-Kit aktiviert.
https://www.ancestry.de/cs/legal/termsandconditions
Da für den DNA-Test bei Ancestry eine Speichelprobe eingeschickt werden muss, soll gerade verhindert werden, dass eine Person ohne ihr Wissen getestet wird. Es mag sein, dass sich diese Regelungen im Einzelfall umgehen lassen. Dies liegt dann aber nicht mehr in der Verantwortung von Ancestry. Ein Autovermieter trägt schließlich auch nicht die Verantwortung dafür, wenn der Mieter eines Autos sich nicht an die Verkehrsregeln hält oder heimlich und vertragswidrig einen Minderjährigen ohne Führerschein ans Steuer lässt.
Punkt 12: Weichert behauptet:
Ancestry klärt ihn [den Nutzer] weder darüber auf, dass er sich damit [mit einem heimlichen Testen von Kindern zum Zwecke des Vaterschaftstests] nach deutschem Recht strafbar macht, noch dass seine biologischen Verwandten ein „Recht auf Nichtwissen“ haben und welche gravierenden familiären Verwerfungen und psychischen Folgen so ein Schritt haben kann, etwa wenn per DNA-Test die Unehelichkeit eines Kindes herauskommt oder ein angeblich anonymer Samenspender plötzlich ans Tageslicht gezerrt wird.
Tatsächlich untersagt Ancestry ausdrücklich, die Ergebnisse von DNA-Tests
für medizinische, diagnostische oder Vaterschaftstests oder für diskriminierende oder illegale Zwecke, zu verwenden.
https://www.ancestry.de/cs/legal/termsandconditions#Usage
Ancestry weist ausdrücklich darauf hin, dass ein DNA-Test unerwartete Ergebnisse haben kann:
Unter Umständen könnten Sie bei der Nutzung unserer Dienstleistungen unerwartete Fakten über Ihre eigene Person oder Ihre Familie ausfindig machen, die nicht zu ändern sind (z. B. könnten Sie über bislang unbekannte Geschwister oder einen Elternteil bzw. über unerwartete Fakten zu Ihrer ethnischen Zugehörigkeit erfahren oder überraschende Informationen in öffentlich zugänglichen Registern finden).
https://www.ancestry.de/cs/legal/termsandconditions
Zusammenfassend kann man feststellen, dass die genannten Punkte in der „Laudatio“ teils inhaltlich falsch, teils in der Wertung nicht nachvollziehbar sind; insbesondere wird dem berechtigten Interesse bzw. Recht des Einzelnen auf Kenntnis seiner Abstammung oder der Erforschung seiner eigenen DNA mit keiner Silbe Rechnung getragen. Wünschenswert wäre hier wie sonst eine differenzierte und sachlich korrekte und fundierte Auseinandersetzung mit dem Thema unter Berücksichtigung aller relevanten Gesichtspunkte und Interessen.
Es ist sehr bedauerlich, dass solche Veröffentlichungen in den Medien ohne eine eigene Recherche kritiklos übernommen werden und diejenigen, die dem Thema DNA-Genealogie eigentlich offen und interessiert gegenüberstehen, verunsichern.
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