DNA-Genealogie in Deutschland: Situation und Perspektiven
Was ist Genealogie, was ist DNA-Genealogie?
Die Genealogie ist eine historische Hilfswissenschaft. Sie beschäftigt sich auf der Grundlage schriftlicher Quellen mit menschlichen Abstammungs-, Verwandtschafts- und Familienverhältnissen im geschichtlichen Kontext. Daher wird oft auch die Bezeichnung „Familiengeschichtsforschung“ verwendet. Genealogische Forschungsvorhaben können sich darauf beziehen, die Vorfahren einer heute lebenden Person zu ermitteln („Ahnenforschung“) oder die von Personen der Vergangenheit (vgl. etwa E. Hlawitschka: Die Ahnen der hochmittelalterlichen deutschen Könige, Kaiser und ihrer Gemahlinnen, 2006); es kann das Ziel sein, die Nachkommen einer Person zu erforschen (S. Rösch: Caroli Magni Progenies, 1977), Verwandtschaftsverhältnisse von bestimmten sozialen Gruppen (Ch. Settipani: Continuité des élites à Byzance durant les siècles obscures, 2006) oder aber im Rahmen eines Ortsfamilienbuches alle Einwohner eines Ortes oder einer Pfarrei in ihren Beziehungen untereinander darzustellen.
Die DNA-Genealogie nutzt zusätzlich die Möglichkeiten, die sich aus der (ausschnitthaften) Analyse und Auswertung der menschlichen DNA ergeben können, und verbindet sie mit den Ergebnissen traditioneller Genealogie und Familiengeschichtsforschung.
Welche Erkenntnisse sind durch die DNA-Genealogie möglich?
Die verschiedenen Arten der DNA (yDNA, mtDNA, atDNA) ermöglichen unterschiedliche Auswertungen und Rückschlüsse (genauere Informationen im Portal „DNA-Genealogie“ im Genwiki):
- Beim sogenannten Matching vergleicht man die DNA verschiedener Personen auf größere oder kleinere Gemeinsamkeiten hin. Übereinstimmende Segmente von zwei oder mehr Personen weisen auf nähere oder fernere gemeinsame Vorfahren hin, also auf Verwandtschaft der Probanden. Die Probanden können lebende Personen sein, die zu vergleichenden DNA-Daten können aber beispielsweise auch aus archäologischen Funden stammen. Aus dem Matching ergeben sich folgende Erkenntnismöglichkeiten:
- Feststellung der (biologischen, nicht rechtlichen) Verwandtschaft von zwei oder mehr Personen (bis etwa zehn Generationen zurück, bei heutigen Probanden also zurück bis ins 17. Jahrhundert)
- dadurch ggf. Verifizierung der aus schriftlichen Quellen gewonnenen Forschungsergebnisse bzw. einzelner Vorfahrenlinien
- gezielte Überprüfung von Angaben oder Hypothesen zur Verwandtschaft von zwei oder mehr Personen (bis etwa fünf Generationen zurück)
- Auffinden von Verwandten, zu denen der Kontakt verloren gegangen ist (etwa Auswandererfamilien)
- Identifizierung von unbekannten Vorfahren (Eltern, Großeltern, Urgroßeltern, unter günstigen Umständen auch weiter zurück), etwa in Fällen von un- und außerehelicher Geburt (insbesondere auch: Kinder alliierten Besatzungssoldaten in Deutschland nach 1919 bzw. nach 1945; Kinder deutscher Besatzungssoldaten in Ländern, die zwischen 1939 und 1945 von der Wehrmacht besetzt waren), in Fällen von Adoption, Samenspende, staatlicher Kindswegnahme und Zwangsadoption (in der DDR, in Spanien, Argentinien), Kriegswaisen ohne Informationen zur eigenen Herkunft; damit ggf. auch Klärung der eigenen Identität
- Zurückführung einzelner DNA-Abschnitte auf einzelne Vorfahren
- dadurch ggf. Rekonstruktion von Teilen der DNA längst verstorbener Personen
- Bei der DNA-Herkunftsschätzung wird das Erbgut auf charakteristische „Muster“ untersucht, die Hinweise auf die regionale Herkunft der Vorfahren insgesamt geben können. Daraus ergeben sich folgende Erkenntnismöglichkeiten:
- in manchen Fällen Hinweise zur Herkunft und/oder Identifizierung von unbekannten (nahen) Vorfahren (Eltern, Großeltern, Urgroßeltern)
- (ungefähre) Eingrenzung der regionalen Herkunft eines größeren Teils der Vorfahren (als Ergänzung zu den Ergebnissen traditioneller genealogischer Forschung)
- Ermittlung des individuellen Anteils der Hauptkomponenten, die für die europäische Bevölkerung charakteristisch sind (Jäger und Sammler, anatolische Bauern, indogermanische Grubengrabkultur / Jamnaja) und damit Verbindung der traditionellen Genealogie mit den neuen und neuesten Erkenntnissen von Archäologie und Ancient-DNA-Forschung
- Die yDNA erlaubt Rückschlüsse auf die Verwandtschaft in der direkten rein männlichen Linie mit folgenden möglichen Erkenntnissen:
- Feststellung einer Verwandtschaft in der rein männlichen Linie in den letzten Jahrhunderten, gerade auch dort, wo keine schriftlichen Quellen (mehr) vorhanden sind (etwa: Verwandtschaft von Trägern gleichen Namens, auch wenn ein schriftlicher Nachweis nicht mehr möglich ist)
- ggf. gezielte Überprüfung, ob eine solche Verwandtschaft vorliegt oder nicht
- vor- und frühgeschichtliche Herkunft der direkten väterlichen Linie und damit Verbindung der traditionellen Genealogie mit den neuen und neuesten Erkenntnissen von Archäologie und Ancient-DNA-Forschung
- Die mtDNA erlaubt Rückschlüsse auf die Verwandtschaft in der direkten rein weiblichen Linie mit folgenden möglichen Erkenntnissen:
- Feststellung einer Verwandtschaft in der rein weiblichen Linie in den letzten Jahrhunderten, gerade auch dort, wo keine schriftlichen Quellen (mehr) vorhanden sind
- vor- und frühgeschichtliche Herkunft der direkten mütterlichen Linie und damit Verbindung der traditionellen Genealogie mit den neuen und neuesten Erkenntnissen von Archäologie und Ancient-DNA-Forschung
Seit wann gibt es DNA-Genealogie in Deutschland?
Die DNA-Genealogie im engeren Sinne gibt es seit zehn Jahren. Voraussetzung für ihre Entwicklung war die Entschlüsselung der menschlichen DNA (2003) und die Einführung von allgemein verfügbaren DNA-Tests (ab 2005). 2009/10 wurden die ersten Datenbanken für das Matching entwickelt und eingeführt (23andme, FTDNA, Gedmatch), und die Einführung eines kostengünstigen atDNA-Tests durch Ancestry hat zunächst in den USA die DNA-Genealogie populär gemacht. Seit 2012 wurden auch die wesentlichen Techniken der DNA-Genealogie entwickelt (das Matching, die Triangulation, das Phasing, die Bearbeitung von Rohdaten, die DNA-Kartierung).
In Deutschland waren die für die DNA-Genealogie notwendigen DNA-Tests von Anfang an grundsätzlich verfügbar, aber das Interesse daran war zunächst eher gering (vermutlich, weil es zunächst bei keinem Anbieter eine deutschsprachige Benutzeroberfläche gab, die Bestellung auf Englisch abgewickelt werden musste und auch die Ergebnisse nur mit englischer Erläuterung verfügbar waren). Die Mailingliste „DNA-Genealogie“ wurde bereits im Februar 2008 eingerichtet und belegt das grundsätzliche Interesse einer kleinen Gruppe von Genealogen an den damals ganz neuen Möglichkeiten.
Die Situation hat sich erst 2017 grundlegend geändert, als zunächst MyHeritage und später (Ende 2018) auch Ancestry ihre atDNA-Tests mit einer deutschen Benutzeroberfläche auf den Markt gebracht haben. In den Matching-Datenbanken vor allem dieser beiden Anbieter sind zunehmend auch Probanden aus Deutschland zu finden, die Zeitschrift „Computergenealogie“ hat das ganze Heft 4/2018 dem Thema gewidmet, und die Facebook-Gruppe „DNA-Genealogie auf Deutsch“ weist ein kontinuierliches, aber eher lineares Wachstum auf: eingerichtet Anfang 2017, 500 Mitglieder im August 2017, 1.000 Mitglieder im März 2018, 1.500 Mitglieder im Dezember 2018, 2.000 Mitglieder im September 2019).
Welche Bedeutung haben Genealogie und Familiengeschichtsforschung in Deutschland und in anderen Ländern?
In Deutschland gibt es zahlreiche regionale genealogische Vereine und mit dem Verein für Computergenealogie einen großen überregionalen Verein. Wegen Doppel- und Mehrfachmitgliedschaften ist es unmöglich, eine Gesamtzahl der in Vereinen organisierten Familiengeschichtsforscher in Deutschland zu ermitteln. Dasselbe dürfte für andere Länder auch gelten. Einige Anhaltspunkte ergeben sich aber aus der Zahl der „Abonnenten“ von Vereinen, Zeitschriften etc. bei Facebook und aus der Mitgliederzahl von Facebook-Gruppen zu genealogischen Themen. Dabei ergibt sich das Bild, dass Genealogie in anderen Ländern deutlich populärer ist als in Deutschland. Dies zeigen folgende Beispiele:
- Der Verein für Computergenealogie in Deutschland (83 Mio. Einwohner, außerdem mit Mitgliedern in Österreich und der Schweiz) hat auf Facebook rund 3.200 Abonnenten.
- Das CBG Centrum voor familiegeschiedenis in den Niederlanden (18 Mio. Einwohner) hat rund 5.000 Abonnenten.
- La Revue française de Généalogie aus Frankreich (67 Mio. Einwohner) hat 7.500 Abonnenten.
- Die Gruppe Généalogie pour tous en Belgique (11 Mio. Einwohner) hat 3.600 Mitglieder.
- Die Gruppe Släktforskning aus Schweden (knapp 10 Mio. Einwohner) hat rund 15.500 Mitglieder.
- luxracines.lu a.s.b.l. – Généalogie au Grand-Duché de Luxembourg (600.000 Einwohner) hat 850 Abonnenten.
- Irish Genealogy (Irland hat knapp 5 Mio. Einwohner) kommt auf knapp 29.000 Abonnenten, Ireland Family History gar auf 371.000 Abonnenten.
- Das Scottish Genealogy Network (Schottland hat rund 5,5 Mio. Einwohner) kommt auf 2.800 Abonnenten.
- In den USA (330 Mio. Einwohner): Das Texas Genealogy Network hat 5.600 Mitglieder, das Pennsylvania Genealogy Network 12.000 Mitglieder, die Gruppe The Genealogy Squad 25.000 Mitglieder, The Organized Genealogist 34.000 Mitglieder, die Gruppe Genetic Genealogy 60.000 Mitglieder.
Im internationalen Vergleich und unter Berücksichtigung der Einwohnerzahlen spielen Genealogie und Familiengeschichtsforschung in Deutschland offenbar eine deutlich geringere Rolle als in den genannten anderen Ländern. Wäre das Interesse in Deutschland ähnlich hoch wie in Luxemburg oder Schweden, müsste der Verein für Computergenealogie rund 120.000 Abonnenten haben, bei einem Interesse wie in Belgien oder den Niederlanden immerhin noch 25.000 – und nicht nur 3.200. Überraschenderweise hat die englischsprachige Gruppe German Genealogy 24.000 Mitglieder, vor allem aus den USA – im englischsprachigen Ausland interessieren sich also achtmal so viele Menschen für Genealogie in Deutschland wie in Deutschland selbst.
Dieses deutlich geringere Interesse an Genealogie und Familiengeschichtsforschung in Deutschland – zu erklären wohl mit der weiter fortgeschrittenen forgetfulness (vgl. Francis O’Gorman: Forgetfulness. Making the Modern Culture of Amnesia, 2017) – dürfte zumindest teilweise auch eine Erklärung dafür sein, dass die Digitalisierung von Kirchenbüchern und anderem Archivgut in Deutschland sehr viel später begonnen wurde und noch immer in deutlich geringerem Maße erfolgt als etwa in Belgien, den Niederlanden, Polen oder Tschechien. Auch das Niveau von genealogischen (und heraldischen) Zeitschriften in manchen anderen Ländern – etwa den Niederlanden – ist ausgesprochen hoch.
So kann es nicht überraschen, dass auch das Interesse an DNA-Genealogie in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern noch immer relativ gering ist. Während in Deutschland die Facebook-Gruppe DNA-Genealogie auf Deutsch 2.000 Mitglieder hat, kommt die Gruppe DNA-anor in Schweden auf rund 11.000 Mitglieder. Selbst in Frankreich (67 Mio. Einwohner), wo private DNA-Tests gesetzlich verboten sind, hat die Gruppe Généalogie par ADN (Héritage Français) trotzdem knapp 2.000 Mitglieder.
Welche Bedeutung hat DNA-Genealogie in Deutschland und in anderen Ländern?
Insbesondere in den USA wird die DNA-Genealogie mittlerweile als unverzichtbarer Teil der genealogischen Forschung angehen. Der vom „Board for Certification of Genealogists“ erarbeitete „Genealogy Proof Standard“ (GPS), nach dem sich alle ernsthaften Genealogen in den USA richten, verlangt ausdrücklich die Nutzung der DNA im Rahmen der genealogischen Forschung:
Meeting the Genealogical Proof Standard requires using all available and relevant types of evidence. DNA evidence both differs from and shares commonalities with documentary evidence.
Genealogy Standards. Second edition. Hrsg. vom Board for Certification of Genealogists. New York 2018, S. 29
Die „genealogy standards“ 51 bis 57 beziehen sich auf verschiedene grundsätzliche Fragen der Nutzung von DNA-Tests im Rahmen der Genealogie, darunter vielleicht am wichtigsten der „standard“ 55:
„Genealogists integrate DNA test results with documentary research findings. They assess the merits and shortcomings of the combined evidence, including points of agreement and conflict between and within documentary and DNA evidence.“
Genealogy Standards. Second edition. Hrsg. vom Board for Certification of Genealogists. New York 2018, standard 55
So sehr man die Nutzung von genealogischen Datenbanken durch amerikanische Strafverfolgungsbehörden kritisieren mag, so hat dies doch dazu geführt, dass die Methoden der DNA-Genealogie (insbesondere das Matching und die darauf aufbauende genealogische Forschung) rasch wissenschaftliche Anerkennung über den engeren Kreis der Genealogen hinaus gefunden haben – ein großer Unterschied zu Deutschland, wo von Universitäts- und Forschungsinstituten die DNA-Tests häufig als unseriös abqualifiziert werden.
Aus Australien wird berichtet:
I am in Australia. DNA testing is definitely accepted as a source of Genealogical evidence. There are some people who don’t want anything to do with it, or think it unnecessary, but I think these people are in the minority. There are still lots of people who would love to test, but still find it a bit too expensive.
Chris Wright, in einer E-Mail
All the the societies I am involved with are having ‚Interest Groups‘ so that members can learn, discuss and use DNA test results. This MUST always be used in conjunction with proper genealogical research, as DNA without a tree means nothing. Well, some people seem to just be interested in the less reliable ethnicity results, but for genealogy you still need good research and a tree, to match up cousins and ancestors.
Eine ähnlich positive Einstellung zur DNA-Genealogie herrscht in Schweden:
In Sweden, Genetic Genealogy is now used by most genealogists as a tool. DNA is embraced by almost every genealogical society and they arrange lots of presentations and ”DNA-cafés” where members meet and help eachother. At most of these events there are DNA kits available for new people to test. DNA is widely used by Swedish genealogists to verify documented family trees and some projects even examine relationships in medieval families with Y-DNA and mitocondria DNA. The three major magazines have articles about DNA in every issue, but there are no magazines specialised at just DNA. I think the situation is quite similar in Norway and Finland.
Peter Sjölund in einem Beitrag in der Gruppe „Genetic Genealogy“
Auch in den Niederlanden scheinen die Möglichkeiten der DNA-Genealogie inzwischen etabliert zu sein. Die „Limburgs Tijdschrift voor Genealogie“ hat mit Heft 4/2018 die Rubrik „Genetische Genealogie“ eingeführt, und im Vorwort zur Ausgabe 3/2018 der Zeitschrift „Gen. Magazine voor familiegeschiedenis“ schreibt der Herausgeber:
De genetische genealogie is al haast niet meer weg te denken uit de gereedschapskist van de familiehistoricus. Miljoenen mensen wereldwijt hebben de afgelopen jaren een DNA-monster laten testen om meer te weten to komen over hun achtergrund. Of het nu gaat om het vinden van onbekende voorouders, het aan elkaar knopen van families met dezelfde achternaam, of het vissen naar verre verwanten: met het opsturen van wat speeksel of wangslijm zijn inmiddels talloze stamboomvastlopers uit de brand geholpen. Het zou de generaties voor ons onnoemlijk veel getob hebben bespaard, als ze de beschikking hadden gehad over deze nieuwe mogelijkheden.
Elias van der Plicht: Ten geleide. In: Gen. Magazin voor familiegeschiedenis 3/2018, S. 1
In Deutschland dominiert hingegen unter den aktiven Familiengeschichtsforschern insgesamt eine eher kritische bis ablehnende Haltung gegenüber der DNA-Genealogie. Deren Methoden werden in Mailinglisten und Forenbeiträgen oft als unnötig, unseriös oder gar gefährlich dargestellt, häufig in eklatanter Unkenntnis der tatsächlichen Methoden und (rechtlichen) Rahmenbedingungen. Als Beispiel seien zwei Berufsgenealogen mit Äußerungen in deutschsprachigen Mailinglisten zitiert:
Das ist jedenfalls nicht die Art Ahnenforschung, die ich meinen Klienten empfehle[,] und [eine Art,] die ich selbst nie machen würde. […] da liefert man sich und seine Nachkommen den internationalen Polizeibehörden aus. Bin gespannt[,] wann der erste „moderne Ahnenforscher“ aufgrund der DNA-Abgabe in die Fahndungsspirale kommt.
Ich bin nicht gegen DNA-Genealogie, und sie hat durchaus in einigen Bereichen eine Berechtigung. Aber wir FORSCHEN hier – das ist etwas anderes. Für uns zählt nicht das Ergebnis eines Austausches von Körperflüssigkeiten, sondern das geschriebene Wort […].
Gründe für die ablehnende Haltung unter Genealogen in Deutschland sind vermutlich neben der Unkenntnis der Möglichkeiten und der Arbeitsweise der DNA-Genealogie eine skeptische Haltung gegenüber Genforschung und Gentechnik im Allgemeinen (obwohl dies mit DNA-Genealogie nichts zu tun hat) sowie das Vorurteil, nur Archivforschung sei wahre genealogische Forschung, die von DNA-Genealogen in Erwartung eines raschen Erfolgs gescheut würde (das Gegenteil ist der Fall).
Eine wichtige Rolle spielen sicherlich auch die Medien (Hörfunk, Fernsehen, Print), die überwiegend kritisch und sachlich nicht immer richtig über „Gen-Tests für Ahnenforscher“ berichten und dabei meist die angebliche Unsinnigkeit oder Ungenauigkeit der Herkunftsschätzungen und (angebliche) Missbrauchsmöglichkeiten (Nutzung von Datenbanken durch Forschungsunternehmen oder Strafverfolgungsbehörden) in den Vordergrund stellen. Auf das eigentliche Anliegen der DNA-Genealogie, deren Arbeitsweise und deren Möglichkeiten wird oft kaum oder gar nicht eingegangen. Seltene Ausnahmen sind die Zeitschriften „Computergenealogie“ (Heft 4/2018) und „Geo“ (12/2018: „Wie ich wurde, wie ich bin. Die neue Ahnenforschung“).
Auch die in Medienbeiträgen zitierten Vertreter von Universitätsinstituten und Forschungseinrichtungen in Deutschland äußern sich in der Regel kritisch bis ablehnend über die von Genealogen verwendeten DNA-Tests. Ein Grund dafür könnte sein, dass die Werbung der großen Anbieter Ancestry und MyHeritage die Herkunftsschätzungen mit sehr vereinfachten Aussagen und Versprechungen in den Vordergrund stellt, die wissenschaftlich oft nicht haltbar sind. Dies diskreditiert die entsprechenden Tests in den Augen der Wissenschaftler, denen aber die eigentliche Arbeitsweise der DNA-Genealogie, durch das Matching Rückschlüsse auf Vorfahren zu ziehen, gar nicht bekannt zu sein scheint. Daneben mag eine gewisse Skepsis der etablierten Wissenschaft gegenüber der citizen science eine Rolle spielen.
Welche Perspektiven hat die DNA-Genealogie in Deutschland?
Kurzfristig ist realistischerweise mit keiner grundlegenden Änderung der Situation zu rechnen, so lange in den genealogischen Vereinen, Mailinglisten und Foren kritische und ablehnende Stimmen in Bezug auf die DNA-Genealogie überwiegen. Trotzdem werden nach und nach die DNA-Tests von Ancestry und MyHeritage langsam weitere Verbreitung finden, aber vielleicht eher bei Personen, die sich grundsätzlich für ihre Herkunft interessieren, aber nicht unbedingt passionierte Familiengeschichtsforscher sind. Dies vergrößert auf jeden Fall für alle, die sich mit DNA-Genealogie beschäftigen, die Chance auf gute Treffer in den Datenbanken und ermöglicht in Zukunft weitere, vielleicht im Einzelfall auch spektakuläre Erfolge – und gerade Erfolgsgeschichten können dazu beitragen, Vorbehalte gegenüber der DNA-Genealogie abzubauen und neue Interessenten zu gewinnen. Dazu wäre es auch wichtig, dass in den genealogischen Zeitschriften qualitativ gute Beiträge veröffentlicht würden, in denen die traditionelle genealogische Forschung mit den Methoden der DNA-Genealogie verbunden ist, um deren Möglichkeiten und Chancen einer größeren Leserschaft an konkreten Beispielen aufzuzeigen.
Was bietet die DNA-Genealogie für andere Bereiche?
An erster Stelle unterstützt die DNA-Genealogie natürlich mit ihren spezifischen Untersuchungs- und Auswertungsmöglichkeiten die traditionelle genealogische Forschung. Die von ihr entwickelten Methoden und die von ihr erhobenen Daten können aber auch in anderen Bereichen von Interesse sein:
- Die Erfahrungen und Kenntnisse von DNA-Genealogen in der Ermittlung von Verwandtschaftsverhältnissen auf der Grundlage der atDNA können für archäologische Forschungen relevant sein, falls von menschlichen Überresten nicht nur die yDNA und die mtDNA analysiert wird, sondern auch die atDNA. Bislang erfolgen Aussagen zur möglichen Verwandtschaft verschiedener Individuen oft nur auf der Grundlage der yDNA und der mtDNA (verwandt/nicht verwandt in der männlichen bzw. weiblichen Linie).
- Verbesserte Herkunftsschätzungen, wie sie etwa von Lukasz Macuga entwickelt werden, können Aufschluss geben über die regional unterschiedliche Zusammensetzung der Bevölkerung bzw. über die regional typischen Komponenten. Dies erlaubt Rückschlüsse darauf, in welchem Maße frühere Populationen sich vermischt haben oder getrennt blieben. Wie die Auswertung einer größeren Zahl solcher Analysen gezeigt hat, lassen sich für Mitteleuropa einige typische und oft wiederkehrende Muster unterscheiden. Hier wäre eine Zusammenarbeit mit der Vor- und Frühgeschichte bzw. der Archäogenetik denkbar, zumal die von Lukasz Macuga entwickelten Analysen auch auf Individuen angewendet werden können, die bei archäologischen Grabungen geborgen werden (vgl. hierzu das Projekt HistoGenes)
- Zahlreiche DNA-Genealogen lassen die Haplogruppen ihrer yDNA und mtDNA feststellen. In Verbindung mit genealogischen Daten erlaubt dies eine verbesserte Kartierung der heutigen Verbreitung der verschiedenen Haplogruppen, die wiederum auch bei der Analyse archäologischer Funde ermittelt werden und in Bezug gesetzt werden zu vor- und frühgeschichtlichen Populationen. Hier würden sich heute Daten mit Daten, die mehrere tausend Jahre alt sind, zusammenführen lassen.
Eine Nutzung der DNA-Genealogie für Zwecke der Strafverfolgung in der Weise, wie sie in den USA praktiziert wird (reverse genealogy), bzw. eine Zusammenarbeit mit Strafverfolgungsbehörden ist in Deutschland aber kategorisch ausgeschlossen. Dafür fehlen die rechtlichen Grundlagen. Vor allem aber gibt es dafür, anders als in den USA, keine Unterstützung in der Bevölkerung; bei vielen Familiengeschichtsforschern ist gerade die mögliche Nutzung von DNA-Datenbanken durch Strafverfolgungsbehörden in den USA ein zentrales Gegenargument und der Hauptansatzpunkt der Kritik. Allerdings wäre eine solche Nutzung in Deutschland auch methodisch kaum möglich, da aufgrund der strengeren Datenschutzvorschriften kaum genealogische Daten aus der Zeit nach 1910 öffentlich zugänglich sind.
Wäre eine grundlegende (Selbst-)Organisation der DNA-Genealogie sinnvoll?
Um der DNA-Genealogie in Deutschland zu einer besseren Anerkennung (wie etwa in Schweden oder den Niederlanden) zu verhelfen, könnte es sinnvoll sein, eine grundlegende Zusammenarbeit derjenigen, die sich damit beschäftigen, zu organisieren. Dafür sind grundsätzlich mehrere Möglichkeiten denkbar:
- Ein (überregionaler) genealogischer Verein übernimmt federführend die „Zuständigkeit“ für die DNA-Genealogie, etwa im Rahmen einer Arbeitsgruppe innerhalb des Vereins. Der Vorteil wäre, das bereits vorhandene Strukturen genutzt und weiterentwickelt werden könnten. Prädestiniert dafür wäre der Verein für Computergenealogie. Allerdings ist es zum jetzigen Zeitpunkt und angesichts einer verbreitet eher kritischen bis ablehnenden Haltung vieler Familiengeschichtsforscher fraglich, ob dieser oder ein anderer Verein dazu zu gewinnen wäre.
- Ein neuer Verein wird gegründet („Verein für DNA-Genealogie“). Eine Vereinsgründung ist allerdings mit einem erheblichen organisatorischen und finanziellen Aufwand verbunden und setzt eine Gruppe von Freiwilligen mit genügend zeitlichen Kapazitäten voraus. Ein Vorteil wäre, dass ein Verein über Mitgliedsbeiträge und Spenden über ein gewisses Budget verfügt, um eigene Projekte durchzuführen.
- Eine informelle Arbeitsgemeinschaft oder Interessengruppe ohne feste rechtliche und organisatorische Struktur könnte zumindest vorläufig diejenigen, die sich mit DNA-Genealogie beschäftigen, zusammenführen und als zentraler Ansprechpartner dienen. Eine Vereinsgründung oder der Anschluss an einen bestehenden Verein zu einem späteren Zeitpunkt wäre nicht ausgeschlossen.
Welche Aufgaben könnte eine Arbeitsgemeinschaft / Interessengruppe für DNA-Genealogie haben?
Eine Arbeitsgemeinschaft / Interessengruppe für DNA-Genealogie sollte diejenigen zusammenführen, sich im deutschen Sprachraum (oder auch darüber hinaus) intensiv(er) mit DNA-Genealogie beschäftigen und daran interessiert sind, sie inhaltlich und konzeptionell voranzubringen. Welche Aufgaben könnte eine solche Arbeitsgemeinschaft / Interessengruppe übernehmen? Die nachfolgende Liste ist möglicherweise unvollständig und auf jeden Fall ambitioniert; sie beschreibt nicht das Arbeitsprogramm für das nächste halbe Jahr, sondern mögliche Perspektiven und Fernziele.
- Einrichtung einer Internetpräsenz (eigene Domain? dna-genealogie.de und dna-genealogie.eu sind bereits vergeben! – oder als Blog?) mit grundlegenden Informationen und Kontaktmöglichkeiten. Eine solche Interpräsenz sollte bei Google ein gutes Ranking haben, um einfach gefunden zu werden.
- Information über die Arbeitsweise und Möglichkeiten der DNA-Genealogie (natürlich auch über Fragen des Datenschutzes etc.) in verschiedenen Medien und Formen:
- Betreuung, Aktualisierung und inhaltliche Weiterentwicklung des Portals „DNA-Genealogie“ im Genwiki des Vereins für Computergenealogie
- Information über DNA-Genealogie in Mailinglisten, Foren und Gruppen
- Vorträge zur DNA-Genealogie bei genealogischen Vereinen
- Präsentation auf genealogischen Ausstellungen und Messen
- Öffentlichkeitsarbeit / Ansprechpartner für Anfragen von Medien
- Vermittlung von im Einzelfall kompetenten Gesprächspartnern für Interviews o.ä.
- bei Bedarf Richtigstellung von Falschdarstellungen in den Medien, etwa in Form von Pressemitteilungen
- Ansprechpartner für interessierte Familiengeschichtsforscher (entweder Hinweis auf weitere Informationsquellen oder im Einzelfall individuelle Hilfestellung)
- Fragen zur DNA-Genealogie im Allgemeinen
- Fragen zur Auswahl eines Testanbieters
- Fragen zur Auswertung der Testergebnisse
- Ansprechpartner für genealogische Vereine
- Fragen zur DNA-Genealogie im Allgemeinen
- Vortragsanfragen
- Wünschenswert wäre es, wenn es zumindest in den größeren genealogischen Vereinen einen konkreten Ansprechpartner für Fragen der DNA-Genealogie geben würde, evtl. auch institutionalisiert als Mitglied des Beirats o. ä.
- Veröffentlichung von Forschungsergebnissen unter Nutzung der Methoden der DNA-Genealogie; als Fernziel ggf. in einem eigenen Publikationsorgan (ggf. online)
- Erarbeitung von Standards, wie die Ergebnisse von DNA-Tests in Veröffentlichungen dargestellt werden
- Organisation von Datenbankprojekten verschiedener Art
- Betreuung von (Namens-, Regional-, HAplogruppen-)Projekten bei FTDNA, yFull etc.
- Software und Tools: Erarbeitung von deutschsprachigen Benutzeroberflächen oder deutschsprachigen Anleitungen für vorhandene Tools (DNA-Painter, Gedmatch etc.); evtl. (Vorschläge zur) (Weiter-)Entwicklung
- Kontakt zu Universitätsinstituten und Forschungseinrichtungen im Bereich der Archäogenetik, Archäologie und Geschichtswissenschaft sowie zu Museen
- Information über die Arbeitsweise, Methoden und Ergebnisse der DNA-Genealogie
- Auslotung von möglichen Formen der Zusammenarbeit von (universitärer) Wissenschaft und citizen science
- Zugang zu (Roh-)Daten zu Zwecken des Datenvergleichs und der eigenen Forschung
- Anregung von DNA-Tests, die im besonderen Interesse der DNA-Genealogie sind
- Organisation von Crowd-Funding, um einzelne Forschungsvorhaben bzw. DNA-Tests durchführen zu lassen, die Interesse der DNA-Genealogie sind
Kommentare …
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