Zur Häufigkeit von außerehelichen Vaterschaften
Immer wieder stößt man in der Familiengeschichtsforschung auf die Frage, wie zuverlässig die Angaben zu den Kindsvätern in Zivilstandsregistern und Kirchenbüchern sind. Dabei bezieht sich die Frage nicht auf unehelich geborene Kinder, also Kinder von ledigen Müttern, die anhand der Angaben in den Zivilstandsregistern bzw. Kirchenbüchern leicht zu identifizieren sind. Es geht vielmehr um Kinder, die nicht vom angegebenen Vater abstammen, umgangssprachlich oft „Kuckuckskinder“ genannt; um Fälle also, in denen eine verheiratete oder in fester Beziehung lebende Mutter ein Kind von einem anderen Mann bekommen hat (freiwillig oder unfreiwillig), das der Ehemann bzw. feste Partner dann entweder unwissend für sein eigenes gehalten oder es stillschweigend als sein eigenes akzeptiert hat.
Nicht selten werden dann hohe Zahlen in den Raum geworfen – „Kuckuckskinder häufiger als gedacht“ behauptete 2010 das „Handelsblatt“. Wenn sich die rechtlichen Väter hinsichtlich ihrer Vaterschaft Zweifel hatten, so habe sich ein solcher Verdacht oft bestätigt, nämlich „zu etwa 15 Prozent in Russland, fast 17 Prozent in Deutschland und über 50 Prozent in Schweden und den USA.“ Die „Welt“ hingegen berichtete 2016 unter der Überschrift „Zahl der Kuckuckskinder völlig überschätzt“ über eine erste Studie der KU Leuven auf der Grundlage von DNA-Untersuchungen in Verbindung mit genealogischen Forschungen, die zum Ergebnis gekommen war, dass in den vergangenen 500 Jahren im heutigen Belgien der Anteil der Kinder, die nicht vom angegebenen Vater abstammen, bei nur 0,9 Prozent pro Generation lag [Maarten H. D. Larmuseau u.a.: Low historical rates of cuckoldry in a Western European human population traced by Y-chromosome and genealogical data. In: Proc. Biol. Sci. 2013].
Jetzt sind die Ergebnisse einer vertiefenden Studie auf breiterer Datenbasis veröffentlicht worden [Maarten H. D. Larmuseau u. a.: A Historical-Genetic Reconstruction of Human Extra-Pair Paternity. In: Current Biology 2019], eine Studie, die jedem Genealogen und Familiengeschichtsforscher zur Lektüre empfohlen sei [eine andere Zusammenfassung auch hier]. Das Wichtige in Kürze:
Untersucht wurden 513 Paare von Männern aus dem nördlichen Belgien und den südlichen Niederlanden, die nach Ausweis der genealogischen Forschungsergebnisse jeweils in direkter männlicher Linie miteinander verwandt sind und demnach das gleiche Y-Chromosom tragen müssten. Unterschiede im Y-Chromosom bedeuten umgekehrt, dass keine biologische Verwandtschaft in direkter männlicher Linie besteht, also wenigstens ein Kind in der Linie ist, das nicht vom angegebenen Vater abstammt. Dies wurde in gut 90 Fällen festgestellt.
Der Median der Geburtsjahre der Stammväter dieser Paare ist das Jahr 1840, das heißt, in der Hälfte der Fälle liegt die Verbindung früher (in Einzelfällen bis zurück ins 14. Jahrhundert), in der anderen Hälfte später. Durch Archivforschungen wurde sichergestellt, dass alle Geburten in den verbindenden Linien von den Vätern selbst angezeigt wurden (nach Ausweis der Zivilstandsregister) oder dass die Väter zum Zeitpunkt der Taufe noch am Leben waren (nach Ausweis der Kirchenbücher). Dies wurde für die Studie als Anerkennung der Vaterschaft gewertet.
Dieser Untersuchung zufolge beträgt der Anteil von Kindern, die nicht vom angegebenen Vater abstammen, im Untersuchungsgebiet in den letzten 500 Jahren 1,6 % pro Generation, wobei es deutliche Unterschiede in Abhängigkeit von der sozialen Stellung und der Bevölkerungsdichte gibt:
- Insgesamt beträgt der Anteil der Kinder, die nicht vom angegebenen Vater abstammen (in der Studie wird die Abkürzung EPP für „extra-pair paternity“ verwendet) 1,6 % pro Generation.
- Es gibt keine statistisch signifikanten Unterschieden zwischen dem katholischen Flandern und den protestantischen Niederlanden.
- Der Anteil bei Bauern, Handwerkern und Kaufleuten ist niedrig (1,1 % bzw. 1,0 %).
- Der Anteil ist deutlich höher bei Familien mit niedriger sozialer Stellung (Weber, Tagelöhner), nämlich 4,1 %.
- In kleinen Dörfern und Weilern auf dem Land liegt der Anteil bei 0,6 %
- In den Städten liegt der Anteil bei 2,3 % [es ist fraglich, ob die Angabe zur Bevölkerungsdichte zutreffend sein kann: „cities where densities reached 10,000 inhabitants per km2 or more“ – gemeint ist vermutlich: „1,000 inhabitants“]
- Zusammengenommen ergibt sich für Bauern in kleinen Dörfern und Weilern sowie für Familien mit mittlerer und höherer sozialer Stellung ein Anteil von etwa 0,5 %, für Familien mit niedriger sozialer Stellung in größeren Städten ein Anteil von 5,9 %.
- Gegen Ende des 19. Jahrhunderts ist eine gewisse Zunahme zu beobachten, die mit der Industrialisierung und der zunehmenden Verstädterung korreliert.
In der Studie werden weiter die Gründe erörtert, um diesen Befund zu erklären, die aus historischer Perspektive zu untersuchen und zu diskutieren sicher interessant wäre. Nicht genannt wird nämlich das hohe Maß an Sozialkontrolle in vormodernen ländlichen Gesellschaften, das nach meiner Vermutung eine wesentliche Erklärung für den geringen Anteil von Kindern, die nicht vom angegebenen Vater abstammen, auf dem Land sein dürfte.
Für die Gegenwart ist für Deutschland eine ähnliche Häufigkeit von Kindern, die nicht vom angegebenen Vater abstammen, festgestellt worden. Eine Untersuchung auf der Grundlage von Daten, die im Rahmen von Knochenmarkstypisierungen erhoben worden sind, kam zu dem Ergebnis, dass 0,94 % der Kinder einen anderen Vater hatten als angegeben (M. Wolf et al.: Estimating the prevalence of nonpaternity in Germany. In: Human Nature, Juni 2012, Bd. 23, Heft 2, S. 208-217).
Was bedeuten diese Ergebnisse für die Richtigkeit der Ahnentafel? Ausgehend von dem durchschnittlichen Anteil von 1,6 % Kindern, die nicht vom angegebenen Vater abstammen, ist in der sechsten Vorfahrengeneration (64 Vorfahren) mit einem solchen Fall zu rechnen, so dass in der siebten Vorfahrengeneration (128 Vorfahren) entsprechend ein urkundlicher Vater nicht der biologische Vater ist. Zusätzlich ist in dieser Generation mit zwei weiteren Fällen zu rechnen, so dass in der achten Vorfahrengeneration (256 Vorfahren) dann vier Vorfahren „falsch“ sind. In den folgenden Generationen nimmt dann zwangsläufig die Zahl und auch der Anteil der „falschen“ Vorfahren weiter zu.
Generation Zahl der Vorfahren "Kuckuckskinder" falsche Vorfahren 6 64 1 0 7 128 2 1 8 256 4 4 9 512 8 12 10 1024 16 32 11 2048 32 96 (4,7 %) 12 4096 64 224 (5,5 %) 13 8192 128 512 (6,25 %)
Es handelt sich hierbei natürlich um theoretische Werte, die je nach sozialer Stellung der Vorfahren, lokalen Gegebenheiten, historischen Rahmenbedingungen (Krieg …) differieren können. Diese Hochrechnung zeigt eindrücklich, wie sinnvoll es ist, mit den Mitteln der DNA-Genealogie alle erreichbaren Vorfahrengenerationen abzusichern, um wenigstens Fehler in den niedrigen Generationen zu vermeiden.
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